Diverse Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) haben in den vergangenen Monaten den deutschen Fern-, Regional- und Güterverkehr sowie Teile des Luftverkehrs durch Streiks bei der Deutschen Bahn AG sowie der Lufthansa AG lahmgelegt. Weitere Streiks stehen unmittelbar bevor.
Dies hat erneut einige Stimmen auf den Plan gerufen, die sich für eine gesetzliche Regelung des Streikrechts einsetzen. Denn es stellt sich folgende Frage: Was ist, wenn in Unternehmen der kritischen Infrastruktur Streiks ähnlichen Ausmaßes durchgeführt und hierbei wichtige Verfassungsgüter Dritter gefährdet werden? Kann die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur ohne gesetzliche Regelung garantiert werden? Nachfolgend soll deshalb untersucht werden, ob und inwieweit der Gesetzgeber das Streikrecht – v.a. für die kritische Infrastruktur – begrenzen kann.
Rechtmäßigkeit eines Streiks
Das Recht zu streiken, also kollektiv die Arbeit niederzulegen, ist in Deutschland gesetzlich nicht geregelt. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine richterliche Rechtsfortbildung, sog. Richterrecht. Zwar ergibt sich die grundsätzliche Berechtigung der Gewerkschaften, Arbeitskämpfe zu führen, aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG, die ohne den Druck eines Streiks leerlaufen würde. Die Voraussetzungen des Streikrechts selbst entstammen jedoch einer Vielzahl an gerichtlichen Entscheidungen und finden sich in dessen jeweiligen Begründungen. Zusammenfassend ist ein Streik demnach rechtmäßig, wenn er
- von einer Gewerkschaft getragen wird,
- auf die Durchsetzung von tarifvertraglich zu regelnden Arbeitsbedingungen gerichtet ist,
- die Friedenspflicht einhält, d.h. nicht gegen Regelungen eines noch bestehenden Tarifvertrags gerichtet ist,
- auf einem Verbandsbeschluss beruht und
- verhältnismäßig ist.
Häufiger Streitpunkt: Die Verhältnismäßigkeit einer Streikmaßnahme
Inhalt einer gerichtlichen Auseinandersetzung über einen Streik ist regelmäßig die Frage nach der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) sieht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als zentralen Maßstab bei der Beurteilung von Arbeitskampfmaßnahmen (BAG, Urteil vom 19.6.2007 – 1 AZR 396/06), wobei der Arbeitskampf an sich nach einem Beschluss des Großen Senats des BAG aus dem Jahre 1971 grundsätzlich das letzte mögliche Mittel („ultima ratio“) sein sollte (BAG Gr. Sen., Beschluss vom 21.4.1971 – GS 1/68).
Um verhältnismäßig zu sein, muss die Streikmaßnahme geeignet, erforderlich und angemessen („verhältnismäßig im engeren Sinne“) sein. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit kommt der Gewerkschaft eine Einschätzungsprärogative zu: als Teil der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Freiheit der Wahl des Arbeitskampfmittels hat sie einen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob die Maßnahme geeignet und erforderlich ist. Die Arbeitskampfmaßnahme ist demnach so lange rechtmäßig, bis die Gewerkschaft selbst erkennt, dass sie ungeeignet oder nicht erforderlich – dies also offensichtlich – ist. Im Hinblick auf die Angemessenheit lehnt das BAG eine Einschätzungsprärogative der Gewerkschaft zwar ab, da hier eine rechtliche Abwägung der betroffenen gegenläufigen Grundrechte und keine tatsächliche Einschätzung erfolgen muss. Dabei soll jedoch beachtet werden, dass es einer Arbeitskampfmaßnahme gerade immanent ist, dem Kampfgegner wirtschaftliche Nachteile zuzufügen. Durch den ausgeübten Druck soll das angestrebte legitime Ziel erreicht werden. Deshalb ist nach der Rechtsprechung des BAG ein Arbeitskampfmittel erst dann unverhältnismäßig, wenn es sich unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs als unangemessene Beeinträchtigung gegenläufiger verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen darstellt (BAG, Urteil vom 22.9.2009 – 1 AZR 972/08).
Einschränkung von Streikmaßnahmen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?
Einige Stimmen in der Literatur beschreiben die Angemessenheitsprüfung als konturlos und dysfunktional, da sie es nicht erlaube, die Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen wirksam und nachvollziehbar zu kontrollieren. In der Tat haben die Gerichte insbesondere das ultima-ratio-Prinzip im Nachgang der Entscheidung des Großen Senats (s.o.) vielfach aufgeweicht. Die Literatur kritisiert hierbei besonders, dass die Rechtsprechung, die bei der Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts faktisch an die Stelle des Gesetzgebers tritt, gegenläufigen Grundrechten der Arbeitgeberseite zu wenig Gewicht beimisst. Zudem würden insbesondere auch das Gemeinwohl und Belange unbeteiligter Dritter außer Acht gelassen. Was hierbei nicht vergessen werden darf: das Erfordernis des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stellt die Rechtsprechung vor eine nahezu unlösbare Aufgabe. Denn sie muss mangels gesetzlicher Regelungen im Wege der Rechtsfortbildung ein berechenbares Prüfprogramm entwickeln. Aufgrund der Vielfältigkeit der möglichen Konfliktsituationen lässt sich dies aber nur schwerlich in ein formalisiertes rechtliches Regime zwängen.
In der Folge ist eine Arbeitskampfmaßnahme in der Regel erst dann unwirksam, wenn die wirtschaftliche Existenz des Kampfgegners vernichtet werden soll. Zudem soll es auch nicht darauf ankommen, in welcher Höhe Forderungen bestehen. Das BAG spricht sich ausdrücklich gegen eine sog. Übermaßkontrolle aus (u.a. BAG, Urteil vom 24.04.2007 – 1 AZR 252/06).
Für die Passagiere der Deutschen Bahn oder großer Airlines bewirken die Streiks zwar stark womöglich große persönliche Einschränkungen. Die Unternehmen sind hierdurch jedoch nicht in ihrer Existenz gefährdet. Auch die teils als überzogen bezeichneten Forderungen in den Tarifverhandlungen spielen ihrer Höhe nach keine Rolle. Sofern die Unternehmen keine lebensnotwendigen Güter transportieren oder anderweitige Rechtsgüter von höchstem verfassungsrechtlichem Rang in Rede stehen, ist es somit schwer vorstellbar, einen solchen Streik als unverhältnismäßig anzusehen.
Streikmaßnahmen in der sog. Daseinsvorsorge
Was aber passiert, wenn Mitarbeiter in Betrieben der Daseinsvorsorge (bspw. in Krankenhäusern oder in der Wasser- und Energieversorgung) streiken? Dabei sind Leistungen betroffen, auf welche Menschen existentiell angewiesen sind und die der Staat sicherstellen muss. In diesen Fällen kann zu den o.g. persönlichen Einschränkungen eine Gefährdung elementarer Rechtsgüter wie Leib, Leben und körperliche Unversehrtheit hinzukommen.
Ausgeschlossen ist das Streikrecht in diesen Bereichen nach der überwiegenden Ansicht nicht, was auch mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar wäre. Vielmehr sind an die Verhältnismäßigkeit der Streikmaßnahme ggf. strengere Anforderungen zu stellen. Es muss beispielsweise für den jeweiligen Einzelfall geprüft werden, ob im Streikfall sog. Notdienste eingerichtet werden müssen. Sofern der Streikbeschluss solche nicht bereits selbst vorsieht, können sog. Notdienstvereinbarungen abgeschlossen werden, die den Arbeitsausfall in kritischen Bereichen kompensieren bzw. den Betrieb notdürftig aufrechterhalten sollen. Sehen die Gewerkschaften keinen Notdienst vor oder gelingt keine Vereinbarung zwischen den Tarifparteien, übernimmt dies auf Antrag das Arbeitsgericht im Wege einer einstweiligen Verfügung. Der erforderliche Umfang eines Notdienstes hängt von den betrieblichen Gegebenheiten und dem Umfang des konkreten Arbeitskampfes im Einzelfall ab. Streiken die Mitarbeiter ohne die Einrichtung eines erforderlichen Notdienstes, wäre die Streikmaßnahme rechtswidrig.
Nach der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ist ein Notdienst in der Regel bei der Versorgung mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern sowie der Überwachung von Gefahrenquellen (bspw. von Kernkraftwerken) einzurichten. Aber auch in anderen Bereichen der Daseinsvorsoge (bspw. des Verkehrswesens) soll zumindest eine Mindestversorgung sichergestellt werden (u.a. LAG Sachsen, Urteil vom 2.11.2007 – 7 SaGa 19/07). Dabei wird vertreten, dass der Arbeitskampffreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG größtmögliche Geltung verschafft werden muss, weshalb die konkrete Ausgestaltung des Notdienstes auf das unerlässliche Maß zu reduzieren sei (LAG Hamm, Urteil vom 13.7.2015 – 12 SaGa 21/15). Denn die Notdienstmaßnahmen führen zwangsläufig dazu, dass die gewollten Streikwirkungen abgemildert bzw. eingeschränkt werden.
Notwendigkeit einer gesetzlichen Einschränkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich der Daseinsvorsorge?
Große Beachtung fand in diesem Zusammenhang der von ver.di ausgerufene Streik gegen die Autobahn GmbH des Bundes am 27. März 2023, bei welchem sich die Tarifparteien im Vorfeld nicht auf den Abschluss einer Notdienstvereinbarung für den Hamburger Elbtunnel einigen konnten. Schlussendlich ordnete das LAG Hamburg (Urteil vom 26.03.2023 – 1 Ta 1/23) die Offenhaltung des Tunnels an, damit Rettungsdienste, Feuerwehr und Polizei ohne größere zeitliche Verzögerung zu ihren Einsätzen gelangen konnten.
Grundsätzlich haben es somit die Unternehmen der Daseinsvorsorge als Arbeitgeber selbst in der Hand, ob die kritische Infrastruktur (zumindest in Teilen) aufrecht erhalten bleibt oder nicht (bzw. ggf. unzureichend). Dies mündet in die Frage nach der Versorgungsverantwortung der Arbeitgeber. Denn Arbeitgeber sind nicht verpflichtet, einen Streik aktiv abzuwehren und sich dafür einzusetzen, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Vielmehr können sie sich dem Streik auch schlichtweg beugen und den Betrieb während der Dauer des Streiks stilllegen („Busfahrer-Entscheidung“ des BAG; Urteil vom 22.03.1994 – 1 AZR 622/93). Wirtschaftlich mag eine solche Vorgehensweise nicht zweckhaft sein, während taktische Gründe (bspw. durch die Auswirkungen auf das öffentliche Meinungsbild bei einer Eskalation) durchaus dafürsprechen können.
Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften einen Streik– wenn überhaupt – mit einer „angemessenen“ Frist ankündigen müssen (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.08.2021 – 22 SaGa 1131/12). Wann eine Frist „angemessen“ ist, bleibt unklar. Dies verstärkt die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung, zumal Notfallpläne und Notdienste häufig (insb. in der kritischen Infrastruktur) mit einer gewissen Vorlaufzeit ausgearbeitet werden müssen.
Einschränkung des Streikrechts durch bestehende gesetzliche Regelungen?
Gesetzliche Regelungen zur Errichtung von Notdiensten, die das Streikrecht für Fälle der Daseinsvorsorge begrenzen, gibt es bislang nicht. Sofern öffentlich-rechtliche Vorgaben zu einer Mindestpersonalbesetzung existieren oder die zuständige Aufsichtsbehörde Vorgaben macht, müssen diese jedoch beachtet werden. Im Hinblick auf Krankenhäuser macht die sog. Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) für einige medizinische Fachrichtungen Vorgaben zu dem einzurichtenden Notdienst. Diese gibt u.a. vor, welche notwendigen pflegerischen und unaufschiebbaren sonstigen therapeutischen Leistungen sowie Leistungen der Daseinsvorsorge und Hygiene, auf die die Patienten zur Vermeidung von Gesundheitsschäden dringend angewiesen sind, weiterhin erbracht werden müssen. Für Verkehrsunternehmen diskutiert die Rechtsliteratur eine Verpflichtung zur Aufrechterhaltung grundsätzlicher Verkehrsdienstleistungen auf Grundlage der Bereitstellungspflicht nach § 11 AEG und der Beförderungspflicht des § 10 AEG. Im Hinblick auf die Sicherheit des Flugraumes hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2022 (Urteil vom 2.6.2022 – C-353/29) dazu geäußert, dass Luftfahrtgesellschaften aus Art. 8 der Flugsicherungsverordnung (VO (EG) 550/2004) das Recht zukommt, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob das mit der Sicherung des nationalen Luftraums beauftragte Unternehmen nicht trotz eines Arbeitskampfes einen bestimmten Flugverkehr ermöglichen muss. In der Elbtunnel-Entscheidung (s.o.) hat das LAG Hamburg die EU-Tunnelrichtlinie (RL 2004/54/EG) herangezogen.
Die genannten gesetzlichen Regelungen können aber – wenn überhaupt – Arbeitskampfmaßnahmen in der Daseinsvorsorge nur rudimentär und mittelbar einschränken und sind zudem auf die genannten speziellen Bereiche beschränkt.
Möglichkeit einer gesetzlichen Regelung zum Streikrecht in der Daseinsvorsorge?
Die Rechtsliteratur diskutiert aus diesem Grund wieder vermehrt darüber, das Streikrecht gesetzlich zu regeln und dadurch – insbesondere für den Bereich der Daseinsvorsorge – auch zu beschränken. Der Abschluss von Notdienstvereinbarungen wird häufig nicht als ausreichend angesehen. Parallel hierzu haben Streiks in diesen Bereichen in den letzten Jahren auch zugenommen, was die Dringlichkeit einer solchen Regelung weiter in den Fokus rückt. Die Rechtsliteratur vertritt überwiegend die Auffassung, dass eine gesetzliche Regelung für lebenswichtige Bereiche – unter Beachtung des hohen Ranges von Art. 9 Abs. 3 GG – verfassungsrechtlich möglich sei.
Den verbleibenden o.g. Unsicherheiten, die maßgeblich auch durch die individuellen Reaktionen der Streikparteien bedingt sind, wollten deshalb bereits mehrere Gesetzesvorschläge begegnen. Besondere Beachtung fand dabei in der Vergangenheit der Entwurf von Franzen, Thüsing und Waldhoff aus 2012, der u.a. vorsah, dass die Arbeitskampfparteien dafür sorgen müssen, dass die Grundversorgung aufrechterhalten bleibt und beiden Arbeitskampfparteien ein Antragsrecht hinsichtlich eines Schlichtungsverfahrens zukommt (sog. Zwangsschlichtung).
Fazit
U.a. die FDP und einige Stimmen in der Wirtschaft bejahen ein Gesetz zur Beschränkung des Streikrechts. Das BMAS sieht trotz der neu entfachten Diskussion derzeit keinen Bedarf für einen Gesetzesentwurf. Hierbei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es Aufgabe des Staates ist, Güter und Leistungen bereitzustellen, die für ein menschliches Dasein notwendig sind. Diese Versorgungsverantwortung ist derzeit überwiegend auf private Unternehmen abgewälzt. Zwar bestehen für Krankenhäuser und weitere elementare Einrichtungen bereits öffentlich-rechtliche Vorgaben zur Aufrechterhaltung einer Mindestversorgung. Zudem hat die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung bereits Kriterien entwickelt, wann und in welchem Umfang für bestimmte Bereiche ein Notdienst einzurichten ist. Die vorhandenen gesetzlichen Vorgaben gelten jedoch nicht bereichsübergreifend. Die Kriterien der gerichtlichen Praxis kommen wiederum nur dann zum Tragen, wenn die betroffenen Unternehmen die Gerichte überhaupt anrufen. Vergangene „Streikwellen“ haben gezeigt, dass Unternehmen hier ganz unterschiedlich reagieren und Maßnahmen teilweise angreifen, teilweise jedoch auch nicht. Ein Gesetzentwurf, der die Sicherstellung der elementarsten Daseinsvorsorge bereichsübergreifend – jedoch unter Berücksichtigung der hohen verfassungsrechtlichen Geltung von Art. 9 Abs. 3 GG – regelt, wäre demnach durchaus begrüßenswert. Notwendig erscheint angesichts der jüngst durch den Vorsitzenden der GDL, Claus Weselsky, angekündigten sog. Wellenstreiks mit einer deutlich geringeren Vorlaufzeit der Streiks auch eine Mindestankündigungsfrist für Arbeitskampfmaßnahmen.