Viele Arbeitgeber kennen die Situation, dass nach einer Kündigung Mitarbeiter plötzlich ihre Arbeitsunfähigkeit anzeigen und bis zum Ende der Kündigungsfrist mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigungen) einreichen. Auch wenn solche „Zufälle“ natürlich Zweifel aufwerfen können, standen Unternehmen bislang wenig aussichtsreiche Möglichkeiten zur Verfügung, diese AU-Bescheinigungen und damit auch die Entgeltfortzahlungspflicht infrage zu stellen. Legt der Mitarbeiter ein ärztliches Attest vor, kommt dieser AU-Bescheinigung grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu.
Wir haben in unserem Blog bereits über die Entscheidung des LAG Niedersachsen vom 08.03.2023 (Az.: 8 Sa 859/22) berichtet. In diesem Rechtstreit hat sich nun auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) geäußert (Urteil vom 13.12.2023, Az.: 5 AZR 137/23).
Fortsetzung der Rechtsprechung des BAG zum Beweiswert von AU-Bescheinigungen
Das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) sieht vor, dass Arbeitgeber ihren erkrankten Mitarbeitern bis zur Dauer von sechs Wochen ihre arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung weiterzahlen. Eine Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mittels ärztlicher Bescheinigung nachweist. Den ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kommt ein hoher Beweiswert zu. Dieser hohe Beweiswert kann nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung nur erschüttert werden, wenn der Arbeitgeber aussagekräftige Umstände darlegt und beweist, dass Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers bestehen.
In diesem Zusammenhang hatte beispielsweise das BAG bereits 2021 entschieden, dass der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert sein kann, wenn ein Mitarbeiter am Tag der Kündigung krankgeschrieben wird und seine AU-Bescheinigung passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst (Urteil vom 08.09.2021, Az.: 5 AZR 149/21). In diesem Fall muss der Arbeitnehmer zur Aufrechterhaltung seiner Entgeltfortzahlungsansprüche die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit im Prozess anderweitig beweisen, z. B. durch konkrete Erläuterung der Krankheitsumstände, Befundberichte, Zeugenaussage des behandelnden Arztes (einschließlich Entbindung von der Schweigepflicht).
BAG: Erschütterung des Beweiswerts einer AU-Bescheinigung
Mit Urteil vom 13.12.2023 (Az.: 5 AZR 137/23) äußerte sich das BAG nun erneut zum Beweiswert von AU-Bescheinigungen. Konkret entschied das BAG, dass der Beweiswert von AU-Bescheinigungen erschüttert sein kann, wenn der arbeitsunfähige Mitarbeiter nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere AU-Bescheinigungen einreicht, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist ausmachen und der Mitarbeiter unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
Zum Sachverhalt der Entscheidung des BAG
Der Sachverhalt, über den das BAG und zuvor bereits das LAG Niedersachsen entschieden haben, stellte sich wie folgt dar:
Der Mitarbeiter meldete sich bei seinem Arbeitgeber krank und reichte eine AU-Bescheinigung ein („erster AU-Zeitraum“). Einen Tag später ging dem Arbeitnehmer die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zu. Bis zum Ende der Kündigungsfrist erschien der Mitarbeiter nicht mehr zur Arbeit, sondern reichte noch zwei weitere AU-Bescheinigungen ein („zweiter und dritter AU-Zeitraum“). Die dritte AU-Bescheinigung endete am letzten Tag der Kündigungsfrist. Am darauffolgenden Tag trat der Arbeitnehmer ein neues Arbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber an.
Der Arbeitgeber zweifelte an der tatsächlichen Erkrankung des Arbeitnehmers und leistete daher für keinen der drei vorgenannten AU-Zeiträume Entgeltfortzahlung. Der Mitarbeiter klagte daraufhin auf Lohnzahlung.
Das LAG Niedersachsen als Vorinstanz ist unter diesen Umständen nicht von einer Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigungen ausgegangen und sprach dem Mitarbeiter die Vergütung für alle drei AU-Zeiträume zu. Das BAG beurteilte dies teilweise anders.
Zur Entscheidungsbegründung des BAG
Im Rahmen seiner Entscheidung, zu der bislang nur eine Pressemitteilung vorliegt, bekräftigte das BAG zunächst den hohen Beweiswert der AU-Bescheinigungen. Es stellte klar, dass ein Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich mit einem ordnungsgemäßen ärztlichen Attest nachweisen kann.
Weiter hielt das BAG jedoch wiederum fest, dass der hohe Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert werden kann, wenn der Arbeitgeber tatsächliche Umstände vorbringen kann, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Mitarbeiters geben. So sah das BAG nach einer Gesamtwürdigung aller Umstände den Beweiswert der AU-Bescheinigungen, die der Mitarbeiter nach dem Zugang der Kündigung eingereicht hat (zweiter und dritter AU-Zeitraum), als erschüttert an. Das BAG berücksichtigte dabei insbesondere, dass die AU-Bescheinigungen für den zweiten und dritten AU-Zeitraum in Kenntnis der Kündigung zeitlich exakt die restliche Kündigungsfrist umfassten und der Mitarbeiter nahtlos nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen hat.
Nach dem BAG ist es dabei für eine mögliche Erschütterung des Beweiswerts einer AU-Bescheinigung irrelevant, ob eine arbeitgeberseitige oder eine arbeitnehmerseitige Kündigung mit der AU-Bescheinigung in Zusammenhang steht. Ebenso ist nicht entscheidend, ob es sich bei der AU-Bescheinigung um eine Erst- oder Folgebescheinigung handelt.
Den Beweiswert der AU-Bescheinigung für den ersten AU-Zeitraum sah das BAG dagegen – ebenso wie zuvor das LAG Niedersachsen – nicht als erschüttert an. Da die AU-Bescheinigung bereits vor Zugang der Kündigung vorgelegt wurde und der Mitarbeiter von der Kündigung vorab keine Kenntnis hatte, bestand keine zeitliche Verbindung zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und dem Zugang der Kündigung.
Für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den zweiten und dritten AU-Zeitraum trägt im vorliegenden Fall nach der Entscheidung des BAG folglich der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast. Möchte der Mitarbeiter diese Zahlungsansprüche weiterverfolgen, kann er dabei auf die AU-Bescheinigungen nicht mehr zurückgreifen.
Praxistipp
Mit seiner Entscheidung vom 13.12.2023 hat das BAG nochmals klargestellt, dass AU-Bescheinigungen nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Unternehmen ist daher zu empfehlen, AU-Bescheinigungen im Zusammenhang mit Trennungssituationen im Arbeitsverhältnis kritisch zu prüfen. Besteht ein passgenauer Zusammenfall von Kündigungsfrist und AU-Bescheinigung, kann es sich im Einzelfall anbieten, die Lohnfortzahlung zu hinterfragen und rechtlich prüfen zu lassen.